Seit Beginn der Coronapandemie wurden bis Ende Mai 2020 48 schwer erkrankte Covid-19-Patienten auf der Intensivstation des Klinikums Saarbrücken auf dem Winterberg behandelt. Im Interview des Saarländischen Rundfunks mit Thomas Braun blicken der Chefarzt der Klinik für Herz-, Lungen- und Gefäßkrankheiten im Klinikum Saarbrücken, PD Dr. Florian Custodis, und der Leiter der Angiologie auf dem Winterberg, Dr. Andreas Zimmermann, auf aktuelle Erkenntnisse in ihrem Fachbereich.
Das Interview mit SR.de
SR.de: Am Anfang der Coronakrise ging man bei Covid-19 von einer reinen Lungenkrankheit aus. Mittlerweile hat man neue Erkenntnisse - wie sehen die aus?
Dr. Florian Custodis: Man muss differenzieren. Eine normal verlaufende Covid-19-Erkrankung, bei der der Patient im besten Fall zuhause behandelt wird oder auf unserer Normalstation, ist eine Lungenerkrankung. Da sehen wir auch nach wie vor die Hauptmanifestation an der Lunge.
Etwas anderes ist es, wenn Menschen so kritisch erkranken, dass sie auf die Intensivstation müssen. Dort sehen wir oft Verläufe, bei denen nahezu alle Organsysteme angegriffen werden. Wir wissen aus der Wissenschaft und aus der Literatur, dass der Virus auch in anderen Organen außer der Lunge nachgewiesen werden konnte.
SR.de: Inwiefern hängt das mit der Schädigung des Endothels - also der Gefäßinnenwand - zusammen, was auch schon mehrfach beobachtet wurde?
Custodis: In der Lunge werden die ganz kleinen Blutkapillaren zum Teil sehr schwer geschädigt. Covid-19 löst eine Entzündungsreaktion und damit eine Störung der Funktion der Gefäßinnenhaut, des sogenannten Gefäßendothels, aus. Das hat eine Störung der natürlichen Barrierefunktion des Gefäßendothels zur Folge, was zu Thrombosen in diesen Kapillaren führen kann. Was wir ebenfalls wissen: Es kommt auch zu Thrombosen, also Blutgerinnsel in Venen. Die werden in einigen Fällen in die Lungenschlagader fortgespült und lösen dort eine Lungenembolie aus. Covid-19 verursacht also auch Gefäßprobleme.
SR.de: Anfang April hatte Ihr Kollege, der Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Konrad Schwarzkopf, im SR-Interview gesagt: "Wir werden täglich überrascht, was da passiert." Lassen sich diese Überraschungen durch die neuen Erkenntnisse erklären?
Custodis: Die Überraschungen, von denen mein Kollege gesprochen hat, waren Patienten, die in relativer stabiler Situation behandelt wurden und dann plötzlich Probleme wie schwere Kreislaufzusammenbrüche oder Herz-Rhythmus-Störungen gezeigt haben. Die Gründe hierfür verstehen wir heute besser. In einigen Fällen waren schwere Lungenembolien für diese Situationen verantwortlich. Das kennen wir heute etwas besser, weil sich gerade in den letzten zwei Monaten Fallberichte zu Beinvenen-Thrombosen und Lungenembolien häufen.
Außerdem verstehen wir heute besser, dass es durch die Beteiligung des Herzens zu Herz-Rhythmus-Störungen kommen kann oder zu Krankheitsbildern, die aussehen wie Herzinfarkte, wobei es sich letzten Endes aber nicht um Herzinfarkte handelt. Die Tatsache, dass die Covid-19-Erkrankung alle wichtigen Organe einschließen kann, verstehen wir heute in der Tat besser als noch vor zwei Monaten. An unserer grundlegenden Behandlungsstrategie ändern auch diese neuen Befunde jedoch nichts.
SR.de: Hat sich die Therapie also nicht geändert?
Custodis: Was die grundlegende Behandlung, die Beatmungstherapie angeht, hat sich nichts geändert. Gerade im Hinblick auf die Gefäßprobleme sind wir aber relativ früh dazu übergegangen, schwer kranke Patienten mit einer sehr strikten Blutverdünnung zu behandeln. Wir haben unsere Linie beispielsweise dahingehend umgestellt, dass wir nicht mehr nur rein prophylaktisch eine niedrige Dosis Heparin verabreicht haben, sondern sehr intensiv das Blut verdünnt haben, um eben diesen Komplikationen vorzubeugen.
Kann man mit diesen neuen Therapieansätzen die Patienten besser behandeln und ist dadurch die Überlebenswahrscheinlichkeit - auch bei schweren Verläufen - gestiegen?
Custodis: Das ist zum jetzigen Zeitpunkt noch schwer zu sagen. Das kann man nur nachweisen, wenn man im Rahmen einer Studie systematisch größere Gruppen von Patienten untersucht. Fallserien aus New York zeigen uns aber beispielsweise, dass kritisch kranke Menschen mit einer strikten Blutverdünnung eine höhere Überlebenschance haben. Auch wir sind dabei, die Daten unserer Patienten systematisch auszuwerten, um diese Fragen besser beantworten zu können.
SR.de: Angesichts dieser Erkenntnisse: Sollte man jetzt auch den Patienten auf der Normalstation oder zuhause vorsorglich eine strenge Blutverdünnung verabreichen?
Dr. Andreas Zimmermann: Nein, für ein solches Vorgehen gibt es bislang keine Belege aus wissenschaftlichen Studien. Letztlich gilt es auch immer, die Kehrseite der Medaille zu sehen. Jede Therapie hat Nebenwirkungen. Bei der Blutverdünnung kann es zu Blutungen kommen, die auch gravierend ausfallen können, zum Beispiel bei einer Gehirnblutung. Das muss man immer streng gegenüberstellen. Bevor wir einen Patienten behandeln, wägen wir individuell das Risiko gegen den zu erwartenden Nutzen ab.
Ganz aktuelle Studiendaten aus den Niederlanden helfen uns hier weiter. Dort hatte man sowohl die stationären Patienten als auch die auf der Intensivstation im Blick. Und man hat gesehen, dass die Sterblichkeit wahrscheinlich dadurch beeinflusst wird, dass die schwer kranken Patienten auf der Intensivstation häufiger eine Thrombose oder Lungenembolie bekommen. Das gilt jetzt aber nicht pauschal für Patienten im ambulanten Bereich. Man muss keine Angst haben, dass auch Menschen, die nicht in die Klinik müssen, zuhause wegen einer Thrombose tödlich verunglücken. Allen vorsorglich eine Blutverdünnung zu geben - dafür gibt es keinerlei Datenbasis.
SR.de: Da Sie gerade eine quasi druckfrische Studie zitiert haben: Ein wichtiger Teil der Arbeit besteht momentan also auch darin, jeweils die aktuelle Studienlage zu verfolgen?
Zimmermann: So ist es. Am Anfang der Epidemie waren namhafte Spezialisten noch davon ausgegangen, dass eine volle Blutverdünnung möglicherweise zu gefährlich ist. Das gilt so jetzt nicht mehr unter allen Umständen. Daher sind wir auch darauf angewiesen, uns quasi tagtäglich upzudaten, weil das Wissen einfach sehr stark im Fluss ist.
Was man aber auch wissen muss: Die Qualität der Studien ist derzeit eine ganz andere, als wir sonst gewohnt sind. Deshalb muss man auch immer zwischen den Zeilen lesen und sehr gut aussieben.
SR.de: Sind Sie heute aufgrund der neuen Erkenntnisse denn grundsätzlich optimistischer, dass Sie auch Patienten mit kritischen Symptomen noch retten können?
Custodis: Wir sind deshalb optimistisch, weil wir solche kritisch kranken Patienten schon gerettet haben. Wir kennen die Risikomarker für schwere Verläufe. Wir haben verschiedene Parameter, die wir im Labor bestimmen können. Wir wissen, dass das Alter ein Risikofaktor ist - insbesondere, wenn die Patienten bestimmte Begleiterkrankungen mitbringen. Das können Bluthochdruck, ein zurückliegender Herzinfarkt oder eine Lungenerkrankung sein.
Bei diesen Patienten ist die Sterblichkeit sehr hoch. Und das wird auch so bleiben, solange wir keine gezielten Medikamente haben. Das heißt zwar nicht per se, dass wir nicht auch solche Patienten gerettet hätten. Aber der große Durchbruch, so dass man sagen kann, die Heilungschancen sind anders als vor acht Wochen, ist das nicht.
Zumal bislang ja auch keine wirkungsvolle und gezielte Therapie zur Verfügung steht. Es gab zum Beispiel Medikamente, von denen man annahm, dass sie helfen könnten wie Hydroxychloroquin. Verschiedene neue Ansätze werden untersucht. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es noch kein Medikament, das wir vorurteilsfrei einsetzen und dadurch den Patienten sicher retten könnten.
SR.de: Noch eine Frage zum Abschluss: Auch in Saarbrücken gab es schon jüngere Patienten ohne offensichtliche Risikomarker, die aber dennoch schwere Verläufe hatten. Gibt es da schon Theorien, woran das liegt?
Custodis: Nein, das wissen wir nicht. Es waren glücklicherweise nur sehr wenige. Man weiß, dass auch die Anzahl der Viren, die man im Körper hat, nicht das Maß aller Dinge ist, ob die Erkrankung einen schweren Verlauf nimmt. Bislang gibt es keine guten Erklärungen, warum auch junge Menschen ohne Risikofaktoren solch schwere Verläufe haben.
SR.de: Vielen Dank für das Gespräch.